leuchtdiode worriedgirl Foto Ryan McGuire Pixabay

Von der Verzweiflung eines Teenagers

leuchtdiode worriedgirl Foto Ryan McGuire PixabayEtwas andere Gedanken zum Amoklauf eines Schülers in München im Sommer 2016. Diesen Ausflug in traurige Wahrheit und deutliche Kritik an derselben mögen die Leser von leucht-dio.de verzeihen. Bisweilen ist eine solche Geschichte aber auch heilsam, notwendig, wichtig um zu verstehen, warum der Umbruch, die Visionen, die Freundlichkeit, das Miteinander, wofür hier auf diesen Seiten geworben wird, tatsächlich so dringend notwendig sind.
(Juli 2016)

Nun schreien sie wieder nach mehr Kontrolle, mehr Polizei, mehr Repression und Verbot.

Mehrere Anschläge in kurzer Zeit in Deutschland, der zivile Terror ist hierzulande angekommen. Obwohl immer noch Optimist und unbeirrbarer Menschenfreund, sage ich weitere Anschläge auf Menschengruppen voraus, die keineswegs religiös motiviert sein werden. Und deshalb fühle ich mich wohl erst wieder wohler, wenn ich meine fünf cent zu diesen aktuellen Themen aufgeschrieben habe.

Mein Mitgefühl gilt allen Opfern, einschliesslich aller verirrten Täter. Allen Angehörigen natürlich umso mehr. Aber genauso gilt es den Millionen von eigentlich friedfertigen Menschen, die jetzt und im nächsten und übernächsten Moment viel zu viel Schmerz erfahren und dadurch viel zu viel sinnlose Wut aufstauen. Eine verständliche Wut, die eigentlich durch tieferes Verständnis der Nahestehenden und der Mitmenschen allgemein, sowie durch „Zärtlichkeit“ im Miteinander gut zu kurieren wäre! Dies ist ein kurzer Versuch, einige der Gründe für Schmerz und Wut zu verstehen und hu beschreiben. Eine Anregung zu einer weniger oberflächlich zu führenden Diskussion.

Unsere leider schon wieder so eindimensional denkenden Politiker und Ordnungshüter wollen also dieser vermehrt auch in unserem Land auftretenden furchtbaren Art von Gewalt mit Repression, Kontrolle, Aufrüstung begegnen. Sie sind in guter Gesellschaft: Auch unsere Medizin doktert gerne an Symptomen herum und vernachlässigt die, wesentlich schwerer zu fassenden, Ursachen einer Krankheit. Die schnelle Pille muss her, die schnelle Lösung, die oft zu noch schlimmeren Nebenwirkungen führt.

Amok laufenden, frustrierten, hassenden Menschen, oft sehr jungen Menschen, mit diesen oberflächlichen Methoden zu begegnen, wird kaum etwas ändern. Im Gegenteil, für viele lebensmüde Menschen ist die mediale Überpräsenz und die Aussicht darauf, einen ganzen Polizeiapparat samt Bundeswehr zu beschäftigen, sogar noch Ansporn! „Gewalt verherrlichende Videospiele“ als Grund vorzuschieben, ist dumm und lächerlich. Denn die Ursache für derartige Verzweiflungstaten, die darauf ausgerichtet sind, grösstmögliches Leid anzurichten, wurzelt tief im täglichen Miteinander.

Der junge Mann, der in München überwiegend Jugendliche und sich selbst in den Tod gerissen hat, wusste genau, was er tat. Irgendwann in der Vergangenheit hat ihn sein Schmerz überwältigt, und niemanden hat das interessiert. Er und alle anderen werden getrieben vom letzten möglichen Schmerzmittel, das ihnen scheinbar übrig bleibt, wenn sich sonst niemand kümmert: Die Verzweiflung so laut wie möglich herausschreien, damit alle hingucken.

Konstruieren wir also kurz eine fiktive Vergangenheit eines Amokläufers.

Mobbing:

Es beginnt in der Schule, ja vielleicht schon im Kindergarten. Mobbing heisst dieses ekelhafte Verhalten anderer, die sich einen Aussenseiter heraussuchen um auf ihm herumzuhacken, ihn auszugrenzen, ihn zu demütigen. Dieser Aussenseiter muss nicht zwingend eine andere Hautfarbe haben, es reicht schon wenn er beispielsweise keine Markenklamotten trägt oder seine Eltern nur einen rostigen alten Ford fahren. Seine Mitschüler wiederum werden selbst zum Mobbing getrieben von dem Wunsch, in einem besseren Licht dazustehen, überlegen zu sein, besser zu sein. Mehr Freunde zu haben, Stärke und Macht demonstrieren zu können. Jeder Aussenseiter bietet sich als Zielscheibe an, zum Wohle der ebenfalls schon nicht intakten Psyche der gegnerischen Clique.
Zu Hause haben diese jungen Menschen häufig keine feste Basis. Die Eltern müssen beide arbeiten gehen, sind selbst frustriert, setzen die Kids früh vor den Babysitter-Fernseher. Und im TV läuft nicht „Biene Maja“, sondern „Meine peinlichen Eltern“ und andere schrille Produktionen, die die wirkliche Peinlichkeit darstellen. Wer schaut mit 10 ohne elterlichen Einfluss schon kindergerechte Dokus, wenn RTL „Zickenalarm“ glorifiziert und wenn man schon in jungen Jahren sich daran ergötzen kann, hämisch mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen. Vielleicht möge unser Innenminister ja mal überlegen, ob man statt den Ego-Shootern lieber unser alltägliches Gekreische und Gezanke, Gezicke und Geneide im TV einer kräftigen Zensur unterziehen sollte!

Konkurrenz und Leistungsdruck:

Unser unbarmherziges Wirtschafts- bzw. Wachstumssystem macht nicht vor Kindern halt. Sie sind eine lohnenswerte Zielgruppe, man muss sie umgarnen, gewinnen, binden, halten. Nur so lassen sich die „notwendigen“ Gewinne erzielen, die die Aktionäre und die Vorstände grosser Konzerne erwarten. Je teurer das Produkt, desto mehr Prestige und Ansehen für den Konsumenten in seiner Clique. In der Schule wird geprotzt und geprahlt. Kinder lernen früh, neidisch auf andere zu sein und enttäuscht, wenn unterm eigenen Weihnachtsbaum nur Holzspielzeug statt eines Smartphones liegt. Unterschiede im Konsumpotential sind ein herrliches Spielfeld für das oben beschriebene Mobbing, und das ab der ersten Klasse. Denn die Zielgruppen für skrupellose Konzernchefs werden jünger und jünger, wenn andere Schichten der Gesellschaft schon gesättigt sind. Markenklamotten, teure Unterhaltungselektronik, und auf dem Fussball muss „Cristiano Ronaldo“ draufstehen. Das heisst, wenn die Jungs und Mädels überhaupt noch Sport treiben…

Arbeitswelt:

Immer weniger Arbeit für immer mehr Menschen. Automatisierung, damit die Reichen noch reicher werden können. Das ist logisch und erfordert ein Umdenken. Stattdessen aber werden sinnlose Jobs geschaffen, damit es Arbeit für alle gibt. Jobs, die keinem Menschen einen Nutzen bringen, wie beispielsweise Millionen Angestellte in Call-Centern, die mit unzureichendem Grundlohn und guten Provisionen darauf getrimmt werden, den Kunden am Telefon noch mehr sinnlose Produkte anzudrehen, um unser Wirtschaftssystem am Laufen zu halten und, siehe oben, Aktionäre und Vorstände zu befriedigen. Die sinnentleerten Tätigkeiten, ganz nebenbei gesagt, machen die Arbeitenden ebenfalls keinesfalls glücklich, sondern krank. Kranke Menschen belasten unser Sozialsystem mehr und mehr. Dennoch halten wir an unserem verstaubten Modell aus dem Industriezeitalter fest, das alle Menschen in Erwerbstätigkeit zwingt, wenn sie Geld erhalten wollen, und damit Brot, Überleben, Konsum, Prestige. Ob dieses System haltbar ist, darüber wird man sich an anderer Stelle dringend und ausführlich zu unterhalten haben. Fest steht, dass die Milliarden, die ein paar Prozent Oberreiche gar nicht ausgeben können und oftmals auch „nicht sehr korrekt“ versteuert werden auf Kosten der Arbeitenden verdient werden. Diese dann, krank, unglücklich, ohne Zeit für wirklich Wichtiges im Leben, müssen sich wegen BurnOuts und Schlimmerem behandeln lassen, und kommen schon mit ihren 10-Jährigen Kindern nicht mehr klar. Der Kreis schliesst sich.

Zeit:

Die Eltern haben ja sowieso keine Zeit mehr, die Kinder beim Aufwachsen zu beobachten und zu begleiten. Vollzeit-Arbeit für Papa und Mama, damit eben doch das Smartphone unterm Baum liegt. Wenn es dafür, trotz doppel-Vollzeit, überhaupt reicht. Babysitter tagsüber sind die Einheitsschulen mit besagter allgegenwärtiger Mobbing-Gefahr. Babysitter nachmittags und abends ist der noch nicht abbezahlte 50-Zoll-Flachbild-TV, mit den man dann am nächsten Tag in der Schule prahlen kann gegenüber dem gemobbten Aussenseiter.

Und so wird dieser Aussenseiter, ohne als lebenswichtig deklarierte Güter wie Markenklamotten, Smartphones und vorzeigbare, coole, unpeinliche Eltern, zunehmend frustrierter und seine Wut staut sich auf. Anstatt diese Wut bei einer Keilerei auf dem Spielplatz oder eben noch besser beim Ringen und Leichtathletik und Fussball mit Gleichaltrigen im Sportverein altersgerecht abzubauen, informiert man sich lieber im Internet und vor der Glotze über andere Artgenossen, die mit der Waffe den „grossen Rumms“ gemacht haben, über diese kranken Seelen, die dann zur Prime Time auf allen Kanälen live und in Farbe viel zu viel Sendezeit erhalten. TV und leider auch das Internet verbreiten, viral und in Windeseile, mit Akribie und Sorgfalt jene Inhalte, die sich alle frustrierten Bürger zwischen 4 und 104 am liebsten anschauen: Katastrophen. Einerseits zeigt die FIFA keine „Flitzer“ aus Fussballstadien mehr, andererseits wird jede Art von Gewalt, Inferno und Katastrophe wollüstig breitgetreten. „Das ist es“, denkt sich der gemobbte, frustrierte, allein gelassene, wütende und unter dem Strich einfach nur verzweifelte Aussenseiter. „Mann, wäre das toll, einmal im Leben auch so viel Aufmerksamkeit zu erhalten.“

Bei so viel schaurig-schönem Adrenalin, das dieser Gedanke erzeugt, ist es doch nebensächlich, dass dies dann auch das erste und letzte Mal war, dass man im Rampenlicht stand.

Ja, auch die Kollegen Journalisten sollte sich der Herr Innenminister also mal zur Brust nehmen, anstatt die Bundeswehr aufzurüsten. Aber klar, auch in diesem Berufszweig zählt nur die Einschaltquote, das Geld, die Marktanteile, das Wachstum. Dennoch darf das als Ausrede nicht gelten.

Vorbild USA:

Nordamerika – Vorreiter in Sachen schriller und mieser TV-Produktionen, Waffenlobby, Fast-Food, Working-Poor, Oberflächlichkeit und eben auch in Sachen Amoklauf! Wir müssen nicht augenrollend und mit dem moralisch-christlichen Zeigefinger zum Islam hinüber schielen, wenn wir uns Gedanken um die Wurzeln jener Anschläge machen möchten. Die tatsächlich islamistisch motivierten Anschläge haben allenfalls den beschriebenen frustrierten Seelen gezeigt, wie man möglichst viel Schaden anrichten kann, wenn man sowieso selbst nicht mehr leben möchte. In Wirklichkeit hat man in den USA schon seit Jahren ein Problem mit hausgemachten lebenden Bomben, das nun über den grossen Teich zu uns herüberschwappt wie vorher McDonalds und eine ganze Menge schlechter Popmusik… . Die USA sind leider unbestritten Vorreiter in Sachen Konsumterror und realem Terror unter Schülern, glorifizierter Selbstjustiz mit der Waffe im „Wilden Westen“. Die zitternden Finger ebenfalls frustrierter und oft schlecht ausgebildeter, machthungriger Polizisten sind auch aktuell allzu leicht am Abzug der Dienstwaffe… . Vieles, das aus den USA kommt, wird auch heute noch bei uns in Europa allzu unreflektiert nachgeahmt. Und von den westlichen Konsumenten bedenkenlos und lustvoll aufgesogen. Und eben auch von frustrierten, gewaltbereiten Jugendlichen. Ich muss mich nicht in scheusslichen Details diverser Amokläufe zwischen New York und San Diego verlieren.

(Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass ich von vielen amerikanischen Menschen und deren Leistungen für Wissenschaft, Kultur und Fortschritt beeindruckt bin – es soll nicht der Eindruck einer pauschalen Verurteilung entstehen, aber die Tendenzen vieler Europäer nach dem 2. Weltkrieg, allzu blauäugig amerikanischen Vorbildern nachzueifern, sind doch deutlich erkennbar).

… ich habe mich warm geschrieben, aus den 5 cent sind 10 geworden. Aber es ist wohl klar geworden, dass wir die Probleme mit den jüngsten Anschlägen nicht auf Videospiele oder fehlende Bundeswehrtruppen abschieben dürfen, denn die „schnelle Pille“ gegen Amoklauf in Deutschland hat unabsehbare Nebenwirkungen und behandelt nicht die Wurzel des Übels. Vielmehr drängt sich eine tiefgreifende gesellschaftliche Analyse zu unserem Wirtschaftssystem, unserer Arbeits- und Konsumwelt, zur Definition von Leistung, zu unserer TV-Kultur, zu mehr Zeit für Mitmenschlichkeit und familiären Zusammehalt uvm. auf.

Und es wird deutlich, dass wir nicht einfach nur mit dem Finger auf die Täter zeigen dürfen, die sich als Arznei gegen ihren eigenen grossen seelischen Schmerz nur deshalb eine möglichst grosse Menschenmenge ausgesucht haben und auch weiter aussuchen werden, da sie dank schlechter Vorbilder einer einfachen, grausamen Formel folgen: „Wenn ich möglichst viel Leid zufüge, nur dann erhalte ich grösstmögliche Befreiung von meinem Schmerz“.

Ein Trugschluss, natürlich. Aber in unseren verwirrten Zeiten durchaus zu verstehen! Der Hass und die Ambivalenz gegenüber dem Leid anderer Menschen sind nicht angeboren, sondern im Laufe vieler unglücklicher Jahre erst entstanden.

Nochmals: Mein Mitgefühl gilt allen Opfern, einschliesslich aller verirrten Täter. Allen trauernden Angehörigen natürlich umso mehr. Aber genauso gilt es den Millionen von eigentlich friedfertigen Menschen, die jetzt und im nächsten und übernächsten Moment viel weitere sinnlose Wut aufstauen, die eigentlich durch Zeit und durch „Zärtlichkeit“ gut zu kurieren wäre! Wir sollten daran arbeiten, dass diese Menschen nicht erst wütend, hässlich und damit gewaltbereit werden!

Titelfoto: „Worried Girl“ – Ryan McGuire, Pixabay

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