Aufgeweckte Gedanken
Es ist für mich erfrischend zu lesen, wie viele Menschen sich derzeit ihre empathischen Gedanken zu einer „neuen/alten, wiedererwachenden Mitmenschlichkeit“ von der Seele schreiben. Im Angesicht der „Ausnahmesituation“, während eines entschleunigten Lebens und eines Stillstandes des Hamsterrades gehen viele in sich und stellen fest, dass sie lange schon keine Lust mehr auf das tägliche Einerlei hatten, das ihnen jetzt zwangsweise genommen wurde. Wer nach einem weiteren 9-to-5 Arbeitstag, nach einer weiteren Woche ohne wirkliche Ruhe und Muße genau diese sucht, findet sie meist nicht. Zu wenig Zeit bleibt dafür, zu viele Gedanken kreisen um Alltägliches und um die Präsentation am nächsten Montag, den Hickhack mit Kollegen, den despotischen Chef oder die entwürdigenden Arbeitsbedingungen. Irgendwo tief vergraben ist ein Groll gegen das herrschende System. Die Lust auf Selbstbestimmtheit, auf die eigene Menschenwürde hat man versteckt, denn sie würde nur zu Resignation und Wur führen, da man „ja doch nichts dran ändern kann“.
Hintergrund ist doch, dass wir alle diese Gedanken schon lange haben, bewusst oder unbewusst. Nur empfand das kaum jemand für wichtig. Zu sehr haben wir uns vor den Karren der Wirtschaft spannen lassen, die ewig weiter wachsen muss, zum Wohle nur weniger Menschen.
Das bröckelt jetzt, und diese Tatsache sieht man an den vielen Kommentaren und Einblicken in menschliche, tiefergreifende, Gedanken- und Gefühlswelt.
Hören wir hier und jetzt nicht auf damit, all dies aufzuschreiben und auszusprechen und kund zu tun. Jeder einzelne Beitrag zählt, damit wir uns gegenseitig stärken und die vielzitierte „kritische Masse“ werden, die es für einen wirklich wirksamen Paradigmenwechsel braucht. Precht nennt es das „Dringend notwendige Update des bürgerlichen Betriebssystems“. Unsere Realität, der Status Quo und ein „weitermachen wie bisher“ ist die wahre Utopie. Viele noch als „utopisch“ abgelehnte Ideen sind hingegen ein Ausprobieren wert und können zur neuen Realität werden.
Bleiben wir stark in unseren instinktiven Überzeugungen und in unserer Lust auf eine neue Form des Miteinanders. Formulieren wir sie. Begreifen wir, dass wir damit nicht allein sind. Machen wir sie zu unserer neuen Priorität.
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