Bewusst naiv!

Tanja wohnt mit ihrer 6 Jahre alten Tochter Sofia in einer kleinen Wohnung in Dortmund. Beiden fällt nach endlosen Tagen unter der Knute der Corona-Verordnungen die Decke auf den Kopf. In ihrem Wohn-Komplex sind 180 frustrierte Familien auf engem Raum zusammengepfercht. Die Spielplätze sind geschlossen, die Menschen denunzieren sich gegenseitig, die Nerven liegen blank. Für Tanja, die in einer Kneipe um die Ecke Pils gezapft und abkassiert hat, wird es auch finanziell langsam eng. „Die Menschen“, erzählt sie mir mit harten Gesichtszügen und irgendwie resigniert, „schauen doch nur auf sich selber. Die flippen jetzt alle aus. Die Bullen kontrollieren uns, die Politiker lassen uns allein. Und vom Ordnungsamt habe ich eine saftige Strafe bekommen, weil mich jemand verpfiffen hat, als ich mein Kind auf die Schaukel im Hof gesetzt habe. Das kann ich nicht bezahlen. Keinen interessierts.“

Julia wohnt mit ihrem Sohn Marc nur drei Blocks weiter. Marcs Zimmer ist seltsam voll mit selbst gemalten Bildern. Es sind nicht die üblichen paar Kritzeleien, auf die ein Kleinkind stolz ist, sondern alle Wände, sogar die Decke, sind lückenlos damit beklebt. Marc selbst sitzt auf dem Fussboden, Stifte um ihn herum verstreut, und malt schon wieder. Julia sitzt entspannt mit einer kleinen Nähmaschine am Kinderschreibtisch. „Ich habe meinen Job im Fitnessstudio am Empfang erstmal verloren. Die Leute vom Jobcenter können mich mal, da geh ich nicht hin. Die Miete habe ich zusammengekratzt. Ich habe gar nicht gewusst, wie toll mein Sohn eigentlich malen kann. Wir haben alle seine Bilder gesammelt. Als wir sie aufgehängt haben, hat er mir jedes einzelne Bild erklärt. Endlich habe ich die Zeit, mich mit meinem Sohn zu beschäftigen. Damit ich im nächsten Monat die Miete bezahlen kann, nähe ich Mundschutze für die gesamte Nachbarschaft. Ich musste nur mit ein paar Freundinnen telefonieren, und schon wussten alle, dass ich das mache. Jetzt habe ich insgesamt über 200 Aufträge, für jeden bekomme ich 7 Euro!“

Zwei Menschen. Zwei vergleichbare Situationen. Zwei Denkweisen.
Wenn Julia ihrer Nachbarin Tanja sagt, dass die Menschen eben doch nicht „schlecht“ und egoistisch sind, dann hält Tanja, die „die Realität erkannt“ hat, Julia für „naiv“ und sagt mit verächtlicher Stimme „Träum weiter. Oh Mann, bist Du naiv“.

Naivität gilt in unserem Sprachgebrauch häufig als Synonym für Leichtgläubigkeit und damit Manipulierbarkeit. Ein naiver Mensch ist fern von der „Realität“, er weiss nicht, wie die Dinge in „Wirklichkeit“ funktionieren. Er sieht alles durch eine rosarote, kindliche Brille. Träumt. Deshalb ist der naiv Denkende und Handelnde auch nicht ernst zu nehmen. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof.

Was, wenn doch?

Für Tanja ist klar, die Realität ist zum Kotzen und die Menschen sind ihre Feinde. Für Julia öffnet sich eine ganz neue Welt. Tanja sehnt sich nach ihrem Job in der Kneipe zurück, obwohl sie dort eigentlich auch nie glücklich war. Sie hat dort das Gekd verdient, das sie zum Überleben brauchte, und dabei die schlüpfrigen Komplimente von angetrunkenen Kerlen tapfer ertragen. Julia hingegen hat sich an die neue Situation angepasst. Sie besinnt sich auf ihre Stärken, und auf die ihres geliebten Söhnchens.

„Ich mach mir die Welt, widde widde wie sie mir gefällt“.

Kinder wie Pippi Langstrumpf leben in ihrer Traumwelt, haben „den Ernst des Lebens“ noch nicht erkannt. Wenn sie dann erwachsen werden, hören sie mit dem Träumen auf und stellen sich den Anforderungen, die unsere Welt nun einmal an sie stellt. Was, wenn diese harte Realität nur die Idee derer ist, die uns Menschen dran hindern wollen, uns zu entfalten? Was wenn unsere Entfaltung ihren Interessen nämlich nicht dient und der vielzitierte Ernst des Lebens ein riesegrosser Fake ist? In die Welt gesetzt, um uns manipulierbar zu halten? Was also, wenn diejenigen in Wirklichkeit die „Naiven“ und Manipulierten sind, die diesen Unfug glauben und als „Realität“ definieren? Wohlgemerkt, nur ihre persönliche Realität.

Und umgekehrt: Vielleicht kommen ja diejenigen, die sich in kritischen Situationen bewusst naiv verhalten, erfolgreicher mit diesen Situationen zurecht. Was also, wenn die Anpassungsfähigkeit einer erwachsenen Pippi Langstrumpf ihr Überleben sichert? Ganz im Sinne von Darwins „Survival of the fittest“. Nicht derjenige überlebt, der mittels Kraft und Gewalt die anderen verdrängt. Sondern derjenige, der sich auch in widrigen Umständen an seine Umgebung anpasst. Und da dem Menschen ja als Alleinstellungsmerkmal Selbstbewusstsein und Vorstellungskraft gegeben sind (und nicht etwa Körperkraft), so liegt die Idee nahe, dass er diese Kräfte nutzen kann, um sich zu behaupten. Derzeit mehr denn je!

Und es geht hier nicht bloß um den alten Streit zwischen Optimisten und Pessimisten darüber, ob das Glas nun halb voll und halb leer sei. Das ist eine Sache der Betrachtung, und fürs Überleben nicht von Belang. Von unserer Einstellung zur Realität hängt hier und heute vielmehr unser soziales Miteinander (oder eben Gegeneinander), unsere Bereitschaft zur Kooperation und letztlich der Fortbestand unserer Rasse ab.

Es spricht nichts dagegen, die Krise als Chance zu begreifen. Die Ruhe vor dem Alltagsstress und die zusätzliche, gewonnene Zeit dafür zu nutzen, seine Potenziale zu erforschen anstatt missmutig mit dem Finger auf die genervten „Konkurrenten“ zu zeigen. Und vor Allem spricht nichts dagegen, ganz bewusst ein bisschen naiver zu denken und zu handeln. Und dadurch möglicherweise viel näher an der „Realität“ unserer Spezies zu sein. Träumt weiter, ihr Misanthropen!

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